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Dentale Familie 4.0 – neue Treiber in der Zahnmedizin und Zahntechnik in Deutschland

Bislang lebten Zahnärzte und Zahntechniker und mit ihnen Dentalindustrie und -fachhandel in Deutschland wie auf einer Insel im globalen Dentalmarkt. Der Veränderungsdruck durch neue Technologien und Digitalisierung, veränderte Wünsche der nachfolgenden Zahnärztegenerationen, höheren Frauenanteil in der Zahnmedizin etc. führten bislang noch nicht zu gravierenden Umbrüchen im Markt. Jetzt machen neue Treiber Druck auf die viel beschworene „Dentale Familie“, und dies mit unterschiedlichen Zielen. Aber mit welchen Folgen?


(Foto: Quintessenz)

Das diskutierten die Teilnehmer eines exklusiven Workshops für die Dentalindustrie anlässlich des Quintessenz-Jubiläumskongresses „7 Decades“ in Berlin. Moderiert und eingeführt von Rudolf Weiper, im Dentalmarkt bestens bekannter und bewanderter Unternehmensberater aus Basel, ging es unter dem provokanten Titel „Dentale Familie 4.0 – Robin Hood und die Heuschrecken“ um die neuen Player und Akteure im Markt und die Frage, was das für die Industrie und den Handel verändern wird.

Was passiert da eigentlich?

Weipers Auftaktpräsentation rekapitulierte kurz die Treiber und Marktverschiebungen der vergangenen 15 Jahre. Noch immer hat Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern mit vergleichbarem Mundgesundheitsstatus und demografischer Situation die höchste Zahnarztdichte mit nur 1.148 Einwohnern pro behandelndem Zahnarzt (Österreich 1.915, Schweiz 1.745) und mit 70 Prozent den höchsten Anteil an Kassenfinanzierung der Leistungen (Österreich 47 Prozent, Schweiz 6 Prozent). Steigende Investitionen für Neugründungen oder Praxisübernahmen auf der einen und ein deutlich steigender Frauenanteil bei den Absolventinnen mit geringerer Niederlassungsbereitschaft auf der anderen Seite, dazu die seit 2007 geöffneten Möglichkeiten, auch angestellt tätig zu sein, veränderten das herkömmliche Bild der zahnärztlichen Berufsausübung in eigener Praxis. Die Einzelpraxis werde im Vergleich mit anderen Formen für Einsteiger unattraktiver.

Z-MVZ Ventil für unternehmerisch ambitionierte Zahnärzte

Die Zulassung arztgleicher Medizinischer Versorgungszentren öffnete 2015 ein Ventil für unternehmerisch ambitionierte Zahnärzte. Die Zahl der Z-MVZ stieg um ca. 200 pro Jahr auf aktuell mehr als 650. Davon sind noch mehr als 80 Prozent von Zahnärzten betrieben, die mehr als zwei angestellte Zahnärzte (in der Regel drei) beschäftigen wollten. (Aktuellere Zahlen kamen nach dem Workshop von der KZBV: ca. 700 Z-MVZ, davon 75 in der Hand von Investoren.)

Viele Z-MVZ sind auch Umwandlung bisheriger „krummer Strukturen“ für größere Praxisorganisationen. Abhängig von einer noch möglichen gesetzlichen Beschränkung für Fremdinvestoren werde die Zahl der Z-MVZ aber ähnlich wie bei den Ärzten weiter steigen – je nach Szenario auf bis zu 10 Prozent aller Praxen bis 2025, das wären ca. 4.000 Z-MVZ. Die Zahl der Investoren-Z-MVZ könnte ohne gesetzliche Begrenzungen in dieser Zeit geschätzt auf 2.000 steigen – mit im Schnitt drei dort tätigen Zahnärzten.

Frauen organisieren sich

Die zahnärztliche Standespolitik habe auf diese Entwicklungen häufig nicht oder zu spät reagiert und sich vielfach auf rein ablehnende Positionen zurückgezogen. Der Anteil der Frauen in der Zahnärzteschaft steigt – die Frauen fühlen sich von der männerdominierten und weitgehend überalterten Standespolitik aber nicht vertreten und organisieren sich, um die Forderungen und Vorstellungen der Zahnärztinnen und der jungen Zahnärztegeneration deutlich zu artikulieren, wie jetzt im Verband der ZahnÄrztinnen (VdZÄ). Und dies zeige durchaus Wirkung.

Phalanx der Ablehnung längst gebrochen

Die Phalanx der Ablehnung der Z-MVZ in der Zahnärzteschaft sei längst gebrochen. Die damit entstehenden, familienfreundlicheren neuen Beschäftigungsmöglichkeiten würden zum Beispiel vom VdZÄ ausdrücklich begrüßt. Viele Zahnärzte, die aufgrund standespolitisch hochgehaltener Beschränkungen der Angestelltenzahl ein Z-MVZ gegründet oder eine größere Praxisstruktur umgewandelt hätten, fühlten sich von der standespolitischen Argumentation diskriminiert. Eine Reihe von Investoren-Z-MVZ übten selbst oder über Zusammenschlüsse wie den Bundesverband nachhaltige Zahnheilkunde (BNZK) Druck auf die Politik aus und positionierten sich in der Öffentlichkeit. Es entstehen auch neue Angebote, um junge Zahnärzte mit Praxismodellen der Einzelpraxis für den Wettbewerb mit den MVZ vorzubereiten und zu unterstützen, so die Kooperation „Zahnarztpraxis der Zukunft“ von ApoBank und ZA eG.

Zahntechnik unter Druck

In der Zahntechnik erzeugt der seit Jahren anhaltende Veränderungsdruck durch den technologischen Wandel und den wachsenden Anteil größerer Praxislabore einen existenziellen Verteilungskampf. Nach wie vor ist das zahlenmäßige Verhältnis Zahnarzt zu Zahntechniker in Deutschland fast 1:1, so hoch wie in keinem anderen Land der Welt. Einer kleinen Zahl wirtschaftlich profitabler Großlabore oder Laborketten steht eine sehr große Zahl kleiner und sehr kleiner Labore gegenüber, deren Umsatz vielfach gerade die Existenz sichert. Dennoch ist der Digitalisierungsgrad in den Laboren hoch, die Löhne und die strukturelle Effizienz allerdings niedrig.

Als Vertreter dieser kleinen Labore bauen Interessengruppen wie der Fachverband Zahntechnik (FZT) mit der „Initiative Zahntechnik“ und weiteren Aktionen oder der Arbeitgeberverband Zahntechnik (AVZ) auch unter Einsatz von Social Media erfolgreich Druck auf die Industrie und die Politik auf – mit dem Ziel, die handwerkliche Zahntechnik im gewerblichen Dentallabor zu stützen und das Praxislabor, die Chairside-Fertigung in der Praxis oder den Kauf eines Labors durch die Industrie (Straumann in der Schweiz), zurückzudrängen und so agierende Unternehmen an den Pranger zu stellen. Der Kampf der zahntechnischen Standesvertretungen gegen das Praxislabor konnte bislang keine Erfolge verzeichnen. Welche Rolle die Z-MVZ, besonders Praxisketten als Betreiber von Praxislaboren künftig spielen werden, ist noch unklar. Aktuell sei nicht zu erkennen, dass sie in diesen Bereich breit einsteigen.

Deutschlands stark fragmentierter Dentalmarkt

All diese Entwicklungen verlangen auch von Industrie und Handel Antworten und veränderte Herangehensweisen, darin waren sich alle Workshopteilnehmer einig. „Heuschrecken“ sei aber definitiv der falsche Begriff für die Investoren, die jetzt im Zahnarztpraxismarkt aktiv werden. Nur ein kleiner Teil werde mit dem Ziel schnelle Rendite und rascher Wiederverkauf mit Gewinn getrieben. Da gebe es eher langfristige Investmentstrategien, deren Ziel es in der Regel sei, ein dauerhaftes Geschäft aufzubauen, so die Einschätzung und die Erfahrungen der Teilnehmer.

Deutschland sei im Vergleich mit anderen europäischen Märkten in seinen Strukturen sowohl bei Praxen als auch bei Laboren „der fragmentierteste Markt“. Mit der Kettenbildung und den Investoren stehe man hier noch ganz am Anfang – blicke man zum Beispiel nach Skandinavien, sei ein Marktanteil der Ketten von 30 bis 35 Prozent denkbar. „Wir erleben hier gerade die Vertreibung aus dem Paradies“, so ein Kommentar.


(Bild: shutterstock.com/ESB Professional)

Probleme gleichen sich, aber andere Lösungspotenziale

Im Kern stünden auch die Z-MVZ und die Investoren mit Praxisketten vor denselben Problemen wie die Zahnärzte in den klassischen Einzel- oder Gemeinschaftspraxen: Sich als attraktiver Arbeitgeber positionieren, qualifizierte Zahnärzte und Fachpersonal finden und binden, in neue Technologien investieren, hohen Schulungsbedarf abdecken, Bürokratieflut bewältigen, Patienten finden und binden – nur dass ihnen dafür in der Regel andere Strukturen und Mittel zur Verfügung stehen (können) und sie gegenüber Dienstleistern und Herstellern anders auftreten und verhandeln könnten. Größere Kunden mit größeren Beschaffungsvolumen würden oft lieber direkt beim Hersteller kaufen.

„Die werden sowieso auf uns zukommen und Ihnen sagen, was sie wollen“, so ein Teilnehmer zur Frage, wie man sich auf diese neuen Anforderungen einstellen kann. Aber noch seien diese neuen Strukturen nicht wirklich spürbar im Markt angekommen. „Sie müssen ja auch weiter den schon existierenden Markt bedienen und gestalten, das Andere kommt dann neu dazu.“ Die Frage anderer Konzepte und Ideen wie „Zahnarztpraxis der Zukunft“, die ja auf die weiterhin deutlich überwiegende Zahl der Einzelpraxen und Berufsausübungsgemeinschaften und damit auf die größte Kundengruppe zielen und diese stützen und attraktiv halten wollen, wurde ebenfalls intensiv diskutiert: „Junge Leute ticken anders“, „wir müssen die Diskussion breit machen“.

„Ehekrise“ zwischen Industrie und Handel

Klar sei jedoch, dass der Handel schon jetzt bei Beratung und Schulung an Grenzen stoße, nicht zuletzt, weil durch den boomenden Online-Handel das Geschäft mit den Materialien kaum noch etwas abwerfe und Dienstleistungen von den Kunden nicht gesondert bezahlt würden. „Das wird schon bezahlt, aber man muss es vorher einpreisen“, so ein Teilnehmer. Der Handel wälze diese Beratungsleistungen häufig auf die Hersteller ab – und die müssten das auch finanzieren. „Es gibt schon so eine Art ‚Ehekrise‘ zwischen Industrie und Handel, ähnlich wie bei Zahnärzten und Zahntechnikern“, so ein Kommentar.

Wenn das so weitergehe, bleibe als zentrale Aufgabe des Handels nur noch das Bereitstellen der technischen Services, bei der er sich gegenüber seinen Kunden profilieren könne. Die Hersteller müssten daher künftig vielfach ihre Service- und Beratungsleistungen ausweiten, um mit den neuen Großkunden, aber auch den klassischen Kunden im Geschäft bleiben zu können. „Wir müssen uns klar darauf einstellen, mehr Service und Schulung für die Kunden anzubieten, die unsere Produkte im Handel kaufen“, formulierte ein Teilnehmer die Herausforderung. „Gib mir den Lead, und ich mache den Deal selbst, das kann ich selber besser“, ein anderer.

Problematisch wird es, wenn der Kunde online kauft, die Hersteller aber die Beratungsleistungen beim Handel ja mitfinanzieren. „Die Vorab-Beratung ist ja immer kostenfrei. Die Nachberatung muss der Kunde dann zahlen, wenn er das Gerät im Netz kauft und dann zu uns kommt“, so eine Antwort auf dieses Problem.

Nicht gegen den Kunden Zahntechniker

„Die Zahntechniker sind doch unsere Kunden. Warum sollten wir als Unternehmen gegen unsere Kunden agieren? Aber die Welt verändert sich, und wer bestehen will, muss diese Veränderungen aktiv an- und mitgehen. Das gilt für uns, und das gilt auch für die Zahntechniker“, so das klare Statement eines Teilnehmers. Die Kommunikation darüber sei in der teilweise aufgeheizten Stimmung aber nicht einfach. Die Praxislabore würden ca. ein Drittel des Laborumsatzes abdecken. Das werde offensichtlich auch so bleiben. Damit müsse man umgehen.

Die jetzt lautstark erhobenen Forderungen an die Unternehmen, pro Zahntechnik zu agieren, schützten die Zahntechniker auch nicht davor, dass andere, bisher nicht in diesem Markt agierende Player ihr Zahntechnik-Geschäft am gewerblichen Labor vorbei direkt beim Zahnarzt suchten.

Herausforderungen und Chancen

„Keine Angst vor Investoren, keine Angst vor Veränderungen“ ; „wir stehen am Anfang eines nicht vorhersagbaren Entwicklungspotenzials“; „wir sitzen alle in einem Boot, und da sollte man das Potenzial der Hersteller einbeziehen“ – für die Teilnehmer der engagierten Runde in Berlin bringt die Dentale Familie 4.0 neue Herausforderungen, aber auch neue Chancen – für alle Player im Markt. Grund für Panik oder Aktionismus gebe es nicht, denn „galaktisch gesehen, ist Deutschland doch klein.“ Und die (dentale) Welt drehe sich halt weiter.   MM

Rudolf Weiper, Dipl.-Volksw., arbeitete im Marketing- und Vertriebsbereich deutscher Markenartikelunternehmen und als Strategie- und Organisationsberater für internationale Unternehmensberatungen.
1989 gründete er sein eigenes Unternehmen in Basel. Mit kombinierter Beratungs- und Praxiserfahrung berät er Produzenten, Händler, Institutionen und Verbundgruppen im Dentalmarkt bei der Entwicklung von Strategie, Führung und Vermarktung. (Foto: Weiper)


Kontakt: Rudolf Weiper, Management Support, Malzgasse 14, CH-4052 Basel, E-Mail weiper@weiper.ch, Telefon +41/79 322 59 62


Titelbild: Romolo Tavani/Shutterstock.com
Quelle: Quintessence News Wirtschaft Nachrichten

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