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Von der Erforschung der Neurophysiologie zum Verständnis des klinischen Erscheinungsbildes


Daniele Manfredini, School of Dentistry, University of Siena, Siena, Italy/ Universitätszahnklinik, Universität Siena, Italien

Bruxismus ist in der Zahnmedizin und anderen medizinischen Richtungen ein heißes Thema, wie die große Zahl der Kongresse und Veranstaltungen zu dieser Thematik und die Zunahme der Publikationen in begutachteten Fachzeitschriften (30 Prozent mehr Treffer bei einer Medline-Suche nach „bruxism“ für den Zeitraum 2013 bis 2017 als für die 5 Jahre zuvor) deutlich zeigen. Unter Berücksichtigung der zunehmenden Aufmerksamkeit und der weiter wachsenden Forschungsbemühungen soll zunächst eine Übersicht darüber gegeben werden, was wir über das Phänomen Bruxismus wissen (oder zu wissen glauben).

Aus Sicht des Zahnarztes in der Praxis war Bruxismus immer der Akt des Zähneknirschens im Schlaf. Er wurde mit einer Abnutzung der Zähne und, allgemeiner, mit gewissen okklusalen Charakteristika (beispielsweise Interferenzen) verbunden, die auch als mögliche ätiologische Faktoren betrachtet wurden. Im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich der Schwerpunkt der Forschung auf neurologische und zentralnervöse Gesichtspunkte von Schlafbruxismus (SB) verlagert. Dabei wurde der Glauben an okklusale Ursachen aufgegeben und ein Verständnis für SB-Generator-Modelle geschaffen. Dank früher Untersuchungen im Schlaflabor, die bis in die Mitte der 1990er-Jahre zurückreichen, konnte Bruxismus als Phänomen beschrieben werden, das Teil von Weckreaktionen (engl. arousal) während des Schlafs ist1.

Bruxismus als Phänomen nicht nur im Schlaf

Die Struktur des Schlafs konnte zunehmend aufgeklärt und ein spezieller Typ elektromyografischer Aktivität in den Mm. masseteres, die sogenannte rhythmische Kaumuskelaktivität (rhythmic masticatory muscles activity, RMMA), beschrieben werden, die als neurovegatives Zeichen am Ende einer als Arousal-Antwort bezeichneten Kaskade auftritt. Solche RMMA-Ereignisse, die mittels Polysomnografie (PSG) erfasst werden, wurden als Marker für SB-Episoden etabliert. Diese Beobachtungen bildeten die Grundlage, um genaue PSG-Kriterien für SB zur Identifizierung von Patienten mit klinischen Zeichen (beispielsweise Zahnabnutzung, morgendlicher Schmerz, glänzende Facetten auf Restaurationen) oder anamnestisch angegebenem Zähneknirschen zu entwickeln2. Seither ist die PSG zum Referenzstandard für die SB-Diagnose avanciert und die PSG-Kriterien für SB wurden immer weiter verfeinert. So gelten Menschen, die mehr als vier SB-Episoden pro Stunde Schlaf zeigen, als schwere Schlafbruxer3.

Dieser Beitrag stammt aus der „Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion“ , Ausgabe 2/2018. Die Zeitschrift berichtet bilingual in Deutsch und Englisch über neue Entwicklungen in Klinik und Forschung. Sie nimmt aktuelle Original- und Übersichtsarbeiten, klinische Fallberichte, interessante Studienergebnisse, Tipps für die Praxis, Tagungsberichte sowie Berichte aus der praktischen Arbeit aus der gesamten Funktionsdiagnostik und -therapie auf. Vierteljährlich informiert sie über Neuigkeiten aus den Fachgesellschaften und bringt aktuelle Kongressinformationen und Buchbesprechungen. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenloses Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.


Im Laufe der Jahre und parallel zur zunehmenden Verbreitung der PSG-Kriterien für SB in der Laborforschung lieferten klinische Untersuchungen jedoch einige interessante Beobachtungen. Zunächst wurde in zahnmedizinischen und nicht zahnmedizinischen Forschungseinrichtungen erkannt, dass Bruxismus als Aktivität zu verstehen ist, die auch im Wachzustand auftreten kann. Dieser Wachbruxismus (WB) wird vor allem als Zähnepressen oder Anspannung des Unterkiefers ohne Zahnkontakt ausgeübt. Das Pressen beziehungsweise Anspannen entspricht einer anhaltenden, isometrischen Kontraktion der Mm. masseteres und damit einer motorischen Aktivität, die sich von der phasisch-isotonischen, plötzlich einsetzenden Kontraktion der RMMA-Episoden beim SB grundlegend unterscheidet. Deshalb wurde gefordert, dass die SB-Kriterien ein breiteres Spektrum motorischer Aktivitäten abbilden sollten, um konzeptionelle Einheitlichkeit zwischen den Definitionen von SB und WB herzustellen4.

Polysomnografie auch fehlerhaft angewendet

Weiterhinging die Verwendung der PSG-Kriterien für SB weit über die ursprünglichen Absichten ihrer Verfasser hinaus. Die Kriterien waren aus einer stark selektierten Stichprobe gewonnen und im Vergleich zu Patienten mit selbstberichtetem SB validiert worden, um nach Probanden mit größerer Häufigkeit der Episoden für Forschungszwecke zu suchen. Bei der praktischen Umsetzung wurden diese Zusammenhänge manchmal nicht berücksichtigt. Außerdem wurde in einigen Untersuchungen die PSG verwendet, um SB binär zu kategorisieren (vorhanden/nicht vorhanden), wodurch das eigentliche komplexe biologische Phänomen in ein stark vereinfachtes Modell gezwungen wird. Fast unausweichlich fanden die Studien kontroverse Ergebnisse zum Verhältnis zwischen den klinischen Anzeichen von SB und der Wahrnehmung von selbstberichtetem Bruxismus durch die Patienten5. Die Assoziation von „Bruxismus“ mit seinen möglichen klinischen Markern wurde infrage gestellt6. Kurz, die fehlerhafte Anwendung von PSG-Kriterien für SB als mögliche Indikatoren, um die Rolle von SB als Risikofaktor für klinische Folgeerscheinungen zu bestimmen, hat paradoxerweise zur fortschreitenden Abwertung und schließlich völligen Aufgabe „alter Überzeugungen“ hinsichtlich der Beziehung zwischen SB und Zahnabnutzung beziehungsweise SB und Schmerz geführt.

2013 erste Konsensusdefinition von Bruxismus

Um diese Probleme zu überwinden, und angesichts zunehmender Widersprüche zwischen polysomnografisch diagnostiziertem und anhand von Eigenberichten beziehungsweise klinisch untersuchtem SB, ging daraufhin eine Expertengruppe an die Arbeit. Im Jahr 2013 wurde eine Konsensdefinition von Bruxismus veröffentlicht, die eine bessere diagnostische Abstufung forderte und zugleich die Grundlage für ein anderes Bruxismuskonzept bildete7. Der Sammelbegriff Bruxismus schloss nun deutlicher die verschiedenen motorischen Aktivitäten ein. Auch angesichts der bereits genannten Beobachtung, dass isometrische Aktivitäten vom Typ Pressen einen wichtigen Bestandteil des Bruxismuskontinuums bilden, wurde Kritik an der klinischen Verwendung von binären PSG-Ausschlusskriterien für SB laut, die allein in der Feststellung von Arousal-Ereignissen bestehen8.

Neues Konsensuspapier 2018 vorgestellt

Dieser 2013 veröffentlichte Konsensbericht, ursprünglich als Standortbestimmung und Zusammenfassung von Standpunkten gedacht, wurde jedoch unversehens zu einem Text, für den viele Experten eine Aktualisierung forderten. Dies führte zu einer Reihe von Debatten, die in der Literatur9,10 und auf Kongressen11 ausgetragen wurden. Schließlich wurde ein neues Konsensdokument erarbeitet und der wissenschaftlichen Gemeinschaft kürzlich vorgestellt12.

Gründe zur Erarbeitung dieses neuen Konsenspapiers im Jahr 2018 lagen unter anderem darin, dass sich die Forschung bislang nur auf die Neurophysiologie von Schlafbruxismus konzentriert hatte. Außerdem wurde das Bruxismus-Generatormodell fälschlich mit dem Ziel angewendet, Bruxismus nur als Ganzes zu betrachten, ohne zwischen den einzelnen motorischen Aktivitäten zu differenzieren. Die Aufmerksamkeit sollte also auf ein verändertes konzeptionelles Bruxismuskonzept gelenkt werden.

Bruxismus nicht als Störung per se betrachtet

Der neue Konsensbericht liefert getrennte Definitionen für Schlaf- und Wachbruxismus und entwickelt ein Bruxismuskonzept, in dem dieser nicht als Störung per se, sondern als Verhalten betrachtet wird, das unter bestimmten klinischen Bedingungen einen Risikofaktor darstellt. Zudem revidiert er das diagnostische Gradingsystem von 2013 und entwirft eine Agenda für die Forschung.

Die wichtigsten Schlussfolgerungen, die sich aus diesen Bemühungen ergeben, sind:

• Bei ansonsten gesunden Individuen sollte Bruxismus nicht als Störung aufgefasst werden, sondern als ein Verhalten, das einen Risiko-(und/oder protektiven) Faktor für bestimmte klinische Folgeerscheinungen darstellt.

• Bruxismus kann sowohl mit nicht instrumentellen (vor allem Eigenberichte) als auch mit instrumentellen Ansätzen (vor allem Elektromyografie) untersucht werden.

• Bei ansonsten gesunden Individuen sollte nicht anhand genormter Ausschlusswerte ein Vorliegen oder Fehlen von Bruxismus diagnostiziert, sondern die Bruxismus-relevante Kaumuskelaktivität im individuellen Verhaltenskontinuum bewertet werden.

Noch viele Fragen zu untersuchen

Die Physiologie von Bruxismus bei Kindern, das Verhältnis von SB zu anderen Schlafstörungen (einschließlich obstruktiver Schlafapnoe), eine mögliche Überlastung des Kiefergelenks und der Kaumuskulatur durch Pressen (nicht Knirschen) und die klinische Bedeutung von Zahnabnutzung als prothetisch-restaurative Herausforderung (auch bei möglicher Verursachung durch Knirschen im Schlaf infolge respiratorischer Arousals) sind nur einige der Probleme, die in naher Zukunft eingehender zu untersuchen sind. Daneben wird hoffentlich dem Mangel an Daten zu WB durch Anwendung der Methode des Ecological Momentary Assessment (EMA) bzw. Experience Sampling abgeholfen, die auf der Echtzeiterfassung von Verhaltensmustern beruhen und durch spezifische Smartphone-Apps unterstützt werden können13. 

Die wichtigsten Herausforderungen in der kommenden Zeit bestehen darin, herauszufinden, welche unter dem Sammelbegriff Bruxismus beobachteten motorischen Aktivitäten physiologisch sind, welche Aktivitäten Ausdruck einer Pathologie oder Störungen (wie beispielsweise Schlafapnoe, psychische Störungen, Medikationen, primäre Bewegungsstörungen) sind und bei welchen mit klinischen Folgeerscheinungen zu rechnen ist. Darüber hinaus stellt die Quantifizierung der Kaumuskelarbeit im Schlaf und die Bestimmung ihres zeitlichen Zusammenhangs mit Schmerz und Zahnabnutzung ein wichtiges Ziel der klinischen Forschung dar.

Neues Bruxismusmodell in die Praxis übernehmen

Abschließend sei darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dieses „neue“ Bruxismusmodell unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen Bruxismus, Schmerz und psychosozialen Einflüssen in die CMD-Praxis zu übernehmen. Mit der Anwendung dieses konzeptionellen Gerüstes wird es gelingen, die Zahnmedizin als Spezialdisziplin endgültig aus den „trüben Wassern“ der überkommenen okklusionszentrierten Ära herauszuführen.

Daniele Manfredini, School of Dentistry, University of Siena, Siena, Italy/ Universitätszahnklinik, Universität Siena, Italien

Der Beitrag ist erschienen als Editorial zur Ausgabe 2/18 der Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion/CMF, 2018;10(2):95–99


Weitere Themen in diesem Heft:
Alanen: Etiology, evidence, and ethics: the problem of irreversible treatments of TMD/Ätiologie, Evidenz und Ethik: Das Problem irreversibler CMD-Behandlungen


Steinmaßl et al.: Occlusal aspects of CAD/CAM complete denture fabrication/ Okklusale Aspekte CAD/CAM-gefertigter Totalprothesen


 

Literatur


1. Macaluso GM, Guerra P, Di Giovanni G, Boselli M, Parrino L, Terzano MG. Sleep bruxism is a disorder related to periodic arousals during sleep. J Dent Res 1998;77:565–573.


2. Lavigne GJ, Rompré PH, Montplaisir JY. Sleep bruxism: validity of clinical research diagnostic criteria in a controlled polysomnographic study. J Dent Res 1996;75:546–552.


3. Rompré PH, Daigle-Landry D, Guitard F, Montplaisir JY, Lavigne GJ. Identification of a sleep bruxism subgroup with a higher risk of pain. J Dent Res 2007;86:837–842.


4. Manfredini D, Fabbri A, Peretta R, Guarda-Nardini L, Lobbezoo F. Influence of psychological symptoms on home-recorded sleep-time masticatory muscle activity in healthy subjects. J Oral Rehabil 2011;38:
902–911.


5. Manfredini D, Lobbezoo F. Relationship between bruxism and temporomandibular disorders: a systematic review of literature from 1998 to 2008. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 2010;109:e26–e50.


6. Raphael KG, Sirois DA, Janal MN, et al. Sleep bruxism and myofascial temporomandibular disorders: a laboratory-based polysomnographic investigation. J Am Dent Assoc 2012;143:1223–1231.


7. Lobbezoo F, Ahlberg J, Glaros AG, et al. Bruxism defined and graded: an international consensus. J Oral Rehabil 2013;40:2–4.


8. Manfredini D, Ahlberg J, Winocur E, Lobbezoo F. Management of sleep bruxism in adults: a qualitative systematic literature review. J Oral Rehabil 2015;42:862–874.


9. Raphael KG, Santiago V, Lobbezoo F. Is bruxism a disorder or a behavior? Rethinking the international consensus on defining and grading of bruxism. J Oral Rehabil 2016;43:791–798.


10. Manfredini D, De Laat A, Winocur E, Ahlberg J. Why not stop looking at bruxism as a black/white condition? Aetiology could be unrelated to clinical consequences. J Oral Rehabil 2016;43:799–801.


11. Lobbezoo F, Jacobs R, De Laat A, Aarab G, Wetselaar P, Manfredini D. Chewing on bruxism. Diagnosis, imaging, epidemiology and aetiology [in Dutch]. Ned Tijdschr Tandheelkd 2017;124:309–316. 


12. Lobbezoo F, Ahlberg J, Wetselaar P, et al. International consensus on the assessment of bruxism: Report of a work in progress. J Oral Rehabil 2018 Mar 25. doi: 10.1111/joor.12627.


13. Bracci A, Djukic G, Favero L, Salmaso L, Guarda-Nardini L, Manfredini D. Frequency of awake bruxism behaviors in the natural environment. A seven-day, multiple-point observation of real time report in healthy young adults. J Oral Rehabil (in press).


Titelbild: Oksana Volina/shutterstock.com
Quelle: Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion, Ausgabe 2/18 Funktionsdiagnostik & -therapie Aus dem Verlag

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