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Fallauswahl und chirurgisches Vorgehen bei einwurzeligen Zähnen


Pierpaolo Cortellini M.D., D.D.S., Accademia Toscana di Ricerca, Odontostomatologica (ATRO), Florenz, Italien

Tiefe Taschen in Verbindung mit ausgedehnten intraossären Defekten verschlechtern die Prognose des betroffenen Zahnes. Erreicht der Defekt den Apex oder erstreckt er sich gar darüber hinaus, gilt der Zahn traditionell als nicht erhaltungswürdig und wäre demnach zu extrahieren. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass die parodontale Regeneration die mittel- bis langfristige Prognose eines solchen Zahnes verbessern kann.

In einem Beitrag der Zeitschrift Quintessenz wird der klinische Ansatz zur parodontalen Regeneration von Zähnen, die von ausgedehnten Defekten bis zum Apex oder darüber hinaus betroffen sind, vorgestellt. Anhand eines detaillierten Fallberichts werden die Fallauswahl, die Parodontalhygiene, die Zahnmobilität und ihre Therapie, der Zustand der Pulpa und mögliche Konsequenzen erläutert ("Parodontale Regeneration bei extremen intraossären Defekten. Fallauswahl und chirurgisches Vorgehen bei einwurzeligen Zähnen"

Cortellini Pierpaolo, Tonetti Maurizio S, Quintessenz 2016:67 [5]: 519–526).

In vielen Fällen vereinfacht die parodontale Regeneration bei Patienten mit zunächst nicht erhaltungswürdig erscheinenden Zähnen die Behandlung durch den möglichen Verzicht auf komplexe herkömmliche oder implantatgetragene Restaurationen. Die Anwendung parodontalregenerativer Verfahren erfordert eine umfassende Weiterbildung in der entsprechenden chirurgischen Therapie mit interdisziplinären Ansätzen.

Die „Quintessenz“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wird 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.


In den vergangenen 20 Jahren hat sich die parodontale Regeneration von intraossären Defekten zu einem zuverlässigen Verfahren entwickelt, von dem Patienten langfristig profitieren. Während es anfangs noch zu tiefen Parodontaltaschen kam und das Risiko eines weiteren Fortschreitens der Erkrankung groß war, können inzwischen durch den Einsatz der parodontalen Regeneration Zahnerhaltungsraten von mehr als 90 % nach 10 und 20 Jahren erzielt werden1,3.

Komplexe, interdisziplinäre Therapie

Eine der von Zahnärzten oft gestellten kritischen Fragen ist die nach der Eignung der Technik für sehr ausgedehnte Defekte, insbesondere solche, die bis an die Wurzelspitze oder gar darüber hinausreichen – also bei Zähnen, die allgemein als nicht erhaltungswürdig betrachtet werden. In klinischen Versuchen wurden die Grenzen für die Anwendung parodontalregenerativer Verfahren immer weiter hinausgeschoben. Dies lieferte eine begrenzte Evidenz dafür, dass die parodontale Regeneration bei Zähnen möglich sein kann, bei denen der parodontale Attachmentverlust 360 Grad beträgt und über die Wurzelspitze hinausreicht, und zwar auch bei chronischen so genannten Paro-Endo-Läsionen. Hierauf aufbauend planten wir vor 15 Jahren eine prospektive, randomisierte und kontrollierte klinische Studie, die die klinischen Ergebnisse der parodontalen Regeneration mit Extraktion und Zahnersatz sowohl mit konventionellen als auch mit implantatgetragenen festsitzenden Teilprothesen2 vergleichen sollte.

In unserem definitiven 5-Jahres-Bericht und im vorläufigen 10-Jahres-Bericht haben wir auf hohe Überlebensraten von „nicht behandlungswürdigen“ Zähnen verwiesen, die mit einer komplexen und interdisziplinären Par­odontaltherapie unter häufiger Einbeziehung endodontischer, minimalinvasiv-restaurativer und kieferorthopädischer Maßnahmen gerettet werden konnten. Die erzielten hohen mittel- bis langfristigen Zahnerhaltungsraten stellen aktuelle Prognoseansätze und den Begriff des nicht erhaltungswürdigen Zahnes zumindest für einwurzelige Zähne in Frage. Großes Interesse fand auch die Umsetzung dieses Konzeptes durch unsere Studenten und durch viele Kollegen in aller Welt. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, das diagnostische Vorgehen und den interdisziplinären Behandlungsablauf zu beschreiben, mit denen sich derartige Ergebnisse erreichen lassen.

Fallauswahl

Entscheidende Elemente des Konzeptes sind die Auswahl der für diese Therapie in Frage kommenden Pa­tienten bereits bei der Vorstellung sowie der Ablauf der Behandlung bis zur Hygienephase, nach der die Entscheidung nochmals geprüft wird. Die Auswahl muss schon eingangs erfolgen, weil die Extraktion nicht erhaltungswürdiger Zähne ein wichtiger Be­stand­teil der Hygienephase der Parodontalbehandlung ist.

Allen von uns erfolgreich behandelten Fällen ist gemeinsam, dass ausgedehnte intraossäre Defekte bis zur oder sogar jenseits der Wurzelspitze vorhanden waren, gleichzeitig aber auch eine ausreichende Knochenhöhe um die Nachbarzähne gegeben war, wie sie für den Erfolg der Behandlung Voraussetzung ist. Dieser Knochen ermöglicht die Stabilisierung der regenerativen Biomaterialien sowie der Wunde und gewährleistet, dass hinreichend Weichgewebe für die chirurgische Manipulation zur Verfügung steht.

Die meisten betroffenen Zähne sind stark hypermobil, was angesichts ihres hohen Zerstörungsgrades nicht überrascht. Hypermobilität sollte nicht per se als ungünstiges prognostisches Zeichen für die Zähne gewertet werden. Sie ist die klinische Konsequenz der extremen Zerstörung und muss im Interesse von Pa­tientenkomfort und Zahnerhaltung häufig als Erstes behandelt werden.

Auch die Stellung der betroffenen Zähne im Gebiss des Patienten ist ein wichtiger Faktor. Isolierte Läsionen mit noch signifikantem parodontalem Attachment der Nachbarzähne sind die geeignetsten Kandidaten. Mehrere Läsionen im gleichen Kiefer können gleichfalls behandelt werden, doch erfordert deren Stabilisierung oft komplexe Provisorien.

Weitere wichtige Aspekte der Fallauswahl sind die Vitalität der Pulpa und die Möglichkeit, eine Wurzel­kanalbehandlung erfolgreich durchzuführen. Immer wenn der Attachmentverlust den Apex erreicht hat oder der Zahn devital geworden ist, muss man endodontisch sicherstellen, dass der Wundbereich nicht im frühen Heilungsstadium durch eine infizierte Pulpa kontaminiert wird. Bei manchen Zähnen mit Attachmentverlust bis zum Apex fällt der Vitalitätstest negativ aus. Hier ist die Möglichkeit der Wurzelkanalbehandlung entscheidend: Lässt sich der Wurzelkanal nicht ordnungsgemäß desinfizieren und der Kanal apikal nicht versiegeln, stellt dies eine Kontraindikation für die parodontale Regeneration dar (Fall 1, Abb. 1 bis 13).

Parodontale Hygiene, Zahnmobilität und Zustand der Pulpa

Eine wirksame Hygienephase ist entscheidend für die erfolgreiche parodontale Regeneration. Hierzu zählen immer auch die Überprüfung von Risikofaktoren (Rauchen, metabolische Diabeteskontrolle, Stress usw.) sowie die Eliminierung ursächlicher Krankheitsfaktoren im Gebiss allgemein. Ziel ist eine optimale Kon­trolle der parodontalen Entzündung und des Plaquebefalls entsprechend einem Plaque- und Blutungsindex unter 15 %.

Bereiche mit tiefen Parodontaldefekten stellen vor besondere Herausforderungen. So ist es nicht einfach, die Wurzel in sehr tiefen Taschen ausreichend zu instru­mentieren, da der Wurzeldurchmesser sich nach apikal verringert und die Reinigung mit abnehmender Zugäng­lichkeit des Defektes immer schwieriger wird. Hand­instrumente mit dünnen und langen Einsätzen ermöglichen ein ausreichendes Debridement der Zahnwurzel ohne übermäßige Weichgewebeschäden. Man darf aber die Schwierigkeit dieser Prozedur keineswegs unterschätzen. In bestimmten Fällen kann die ergänzende Gabe von systemischen Antibiotika in Betracht gezogen werden, wobei dies von der allgemeinen Gebisssituation sowie vom Schweregrad und von der Ausdehnung der Erkrankung abhängt.

Für eine sichere Wurzelinstrumentierung müssen häufig zunächst vertikal hypermobile Zähne stabilisiert werden. Bei Zähnen mit nekrotischer Pulpa, bei denen eine parodontale Regeneration indiziert ist, sollte man erwägen, die Wurzelkanalbehandlung vor dem subgingivalen Debridement durchzuführen, damit kein endodontisches Infektionsreservoir die Heilungschancen beeinträchtigt (Fall 2, Abb. 14 bis 18; Fall 3, Abb. 19 bis 23).

Bei der anschließenden Neubefundung sind die Reaktion des Gesamtgebisses auf die Parodontalbehandlung und die örtlichen Gegebenheiten um den „nicht erhaltungswürdigen“ Zahn kritisch zu begutachten. Insbesondere müssen die Entzündung und andere Symptome ganz abgeklungen sein, und dieser Zustand muss so lange gewährleistet sein, bis die Parodontalbehandlung im restlichen Gebiss abgeschlossen ist. Erst dann kann man den „nicht erhaltungswürdigen“ Zahn chirurgisch behandeln.

Chirurgisches Vorgehen

Der chirurgische Zugang zu den hier betrachteten Defekten erfolgt unter Bildung eines Lappens, der die Papille ausspart. Die Anatomie des Defektes entscheidet über die mesiodistale und koronoapikale Ausdehnung des Lappens4. Vertikale Entlastungsschnitte sind möglichst zu vermeiden. Der Lappen ist so zu gestalten, dass einerseits der Zugang gewährleistet ist und andererseits die Wunde nach dem Verschluss gemäß den Prinzipien der minimalinvasiven Chirurgie stabil bleibt. Die Morphologie des Defektes, die Gewebestärke und die Breite des keratinisierten Gewebes beeinflussen die Gestaltung des idealen Lappens. In den meisten Fällen erfordern besonders schwere Defekte die Bildung eines bukkalen und lingualen Volllappens in Verbindung mit einer Periostschlitzung auf der bukkalen Seite, um eine Reponierung des bukkalen Lappens nach koronal zu ermöglichen. Es gibt spezielle Trainings­programme, in denen Parodontologen oder Zahnärzte mit ausreichender chirurgischer Erfahrung erlernen können, klinisch erfolgreiche Ergebnisse zu erzielen. Der Schlüssel hierzu sind ein adäquates Weichgewebsmanagement und das ordnungsgemäße Vernähen des Lappens für eine optimale Wundstabilität und Primärheilung oberhalb des regenerativen Materials.

Wahl des regenerativen Materials

Die parodontale Regeneration bei großen Defekten an „nicht erhaltungswürdigen“ Zähnen setzt geeignete regenerative Materialien entsprechend der spezifischen Anatomie des Defektes voraus. In den meisten Fällen sind diese ausgedehnten Defekte nicht stabil raumfüllend, weshalb Regenerationsmaterialien die Wunde stabilisieren müssen. Zurzeit reicht die Auswahl von einer Kombination aus biologischen Materialien (Schmelz­matrixderivat) mit Knochenersatzmaterial als Füllstoff bis hin zur Verwendung von Transplantaten aus Knochenersatzmaterial unter einer Barrieremembran4. Der Primärverschluss und die Wundstabilisierung erfolgen hauptsächlich durch interne Matratzennähte. Meist ist eine mehrschichtige Nahttechnik empfehlens­wert, um den Lappen oberhalb des Regenerations­materials passiv adaptieren und schließen zu können.

Postoperative Nachsorge

Regenerative parodontale Eingriffe erfordern eine sorg­fältige postoperative Versorgung, um eine ungestörte Heilung ohne Kontamination oder Wundkomplikationen sicherzustellen. Wichtig sind die Spülung mit Chlor­hexidin und die Gabe eines Antibiotikums (Doxycyclin 2 x 100 mg über einen Zeitraum von 7 bis 10 Tagen). Hinzu kommen angepasste Mundhygieneanweisungen mit Chlorhexidinspülungen und professionelle Zahnreinigungen in regelmäßigen Abständen.

Schlussfolgerungen

Die parodontale Regeneration um Zähne mit intra­ossären Defekten, die zirkumferenziell sind oder bis jenseits des Apex reichen, hat sich als eine realistische Alternative zur Extraktion und zum prothetischen Ersatz erwiesen. Der Zahnerhalt vereinfacht die Behandlung, denn es entfallen die schwierige Versorgung der Extraktionsalveole, der Weich- und Hartgewebsaufbau, die Implantatpositionierung und die Konditionierung des Weichgewebes selbst in Fällen, in denen die Zerstörung des Parodonts die Alveole stark in Mitleidenschaft gezogen hat und die Heilung gefährdet. Unsere Studie konnte auch zeigen, dass insgesamt gesehen die Zahnerhaltung durch parodontale Regeneration die kostengünstigere und wirtschaftlichere Lösung ist (Veröffentlichung in Vorbereitung).

Die Herausforderungen bei der klinischen Um­setzung dieses Konzepts sind jedoch vielfältig und erfordern eine Konvergenz mehrerer Faktoren: gutes Verständnis für die richtige Fallauswahl, Verfügbarkeit einer hochwertigen interdisziplinären Versorgung, Beherrschung einer die Papillen erhaltenden Technik der Lappenbildung, profunde Kenntnisse über geeignete regenerative Materialien für den jeweiligen Fall und eine gut organisierte postoperative Nachsorge. Insbesondere ist es wichtig, sich klarzumachen, dass in diesen anspruchsvollen Fällen jeder Schritt optimale Aufmerksamkeit erfordert und besondere Anforderungen stellt. Eine hinreichende individuelle Aus- und Weiterbildung ist hier von entscheidender Bedeutung.

Ein Beitrag von Pierpaolo Cortellini M.D., D.D.S. und Maurizio S. Tonetti D.M.D., Ph.D., M.M.Sc., beide Genua, Italien

Literatur


1.Cortellini P, Buti J, Pini Prato G, Tonetti MS. Periodontal regeneration compared with access flap surgery in human intrabony defects – 20-year follow-up of a randomized clinical trial. J Clin Periodontol 2016.


2.Cortellini P, Stalpers G, Mollo A, Tonetti MS. Periodontal regeneration versus extraction and prosthetic replacement of teeth severely compromised by attachment loss to the apex: 5-year results of an ongoing randomized clinical trial. J Clin Periodontol 2011;38:915-924.


3.Cortellini P, Tonetti MS. Long-term tooth survival following regenerative treatment of intrabony defects. J Periodontol 2004;75:672-678.


4.Cortellini P, Tonetti MS. Clinical concepts for regenerative therapy in intrabony defects. Periodontol 2000 2015;68:282-307.


Quelle: Die Quintessenz, Ausgabe 5/2016 Parodontologie

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